Zum Inhalt springen

Artgerecht ist nur die Freiheit

Präsentation bei einem Fachgespräch der SPD Hannover zum Thema Tierwohl

von Hilal Sezgin

Die Tierwohl-Debatte, wie sie seit den 1970er Jahren und vermehrt in den letzten Jahren geführt wird, orientiert sich im Allgemeinen an den so genannten Brambell'schen Fünf Freiheiten, die für „Nutztiere“ unter anderem eine Freiheit von Schmerzen und bestimmten Beeinträchtigungen fordern. Der starke Begriff der „Freiheit“ steht dabei in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass dabei (und in fast allen öffentlichen Diskussionen) einfach vorausgesetzt wird, dass wir Tieren die fundamentalsten Freiheiten rauben dürfen: nämlich die Bewegungsfreiheit und die Freiheit der natürlichen Fortpflanzung, einschließlich der Aufzucht des Nachwuchses. Ebenso wenig problematisiert wird in diesen „Fünf Freiheiten“, dass zu einem guten/freien/vollständigen Leben ja auch gehört, dass man nicht gewaltsam getötet wird. Genau das aber tun wir allen „Nutztieren“ an: Wir töten sie gewaltsam.

Der Rahmen der menschlichen Nutzung, also auch Tötung der Tiere durch den Menschen ist damit vorgegeben und gerät selbst nicht mehr in den Fokus der Diskussion. Um diesen Rahmen zu erweitern, möchte ich drei Begriffe vorschlagen, die m.E. für eine angemessene Beurteilung unseres Umgangs mit Tieren essentiell sind. Der erste Begriff lautet: Gewalt.

Gewalt fügen wir Nutztieren zu beim

* Einsperren – den gesamten Lebenszyklus lang

* Niederzwingen

* Treiben

* Besamen

* Schwänze Kupieren, Hörner u Zähne Abschleifen, Kastrieren

* Umverteilen der Jungtiere/„Nottöten“

* Wegnehmen der Jungtiere

* auch: Hungernlassen

* Schlachten (auch beim „ Betäuben“)

Traditionell wird der Begriff der Gewalt nur im Zusammenhang mit Menschen verwendet (und verrückterweise sprechen wir auch von „Gewalt gegen Sachen“). Bei Tieren sprechen wir nur von „Tierquälerei“, wenn die Gewalt ein bestimmtes Ausmaß überschreitet, oder korrekter eigentlich: Wenn sie unüblich ist. Die Gewalt in Schlachthöfen und Laboren ist drastisch, bloß nennen wir sie meist nicht so. Doch auch Tiere haben einen verletzlichen Körper, der durch physische (wie auch andere) Maßnahmen beeinträchtigt, beschädigt, zerstört werden kann. Und zwar gibt es

* individuelle Gewalt (also etwa das, was der einzelne Landwirt, Tierarzt, Experimentator, Schlachter tut)

* institutionelle Gewalt (zum Beispiel durch Wirtschaft, Wissenschaft und Gesetzgebung, die all das ja sanktioniert und sogar subventioniert)

* epistemische Gewalt (zum Beispiel durch Grenzziehungen und Begriffe wie „Nutztiere“, „Mensch als Krone der Schöpfung“, „Tiere sind doch dazu da…“)

Der zweite Begriff, den ich vorschlagen möchte, ist der des Individuums. Einerseits wird kaum jemand bestreiten, dass Tiere Individuen sind – aber was folgt in unserer Gesellschaft daraus? Bisher nicht viel. Als Individuum ist ein Tier jedenfalls

* leidensfähig

* empfindungsfähig

* erlebensfähig

* handlungsfähig

* Subjekt seines Lebens

Als Subjekt seines Lebens kann es wahrnehmen, empfinden, genießen,

fürchten, verabscheuen, wollen, ablehnen

* seinen Körper

* seine Umgebung

* Futter

* Bewegung

* Artgenossen

* insb. Beisammensein mit und Sorge für Nachwuchs

Sein individuelles Wohl besteht daher nicht nur in dem, was die „Fünf Freiheiten“ schützen sollten, sondern aus all diesen genannten Komponenten wie auch natürlich im Bestehen seines Lebens selbst, das Voraussetzung für alle anderen Erfahrungen ist. Nicht alle Erfahrungen sind übrigens immer angenehm, auch in der Natur und in Freiheit nicht – das gilt für Tiere genauso wenig wie für Menschen. Das gute und freie Leben ist eben nicht in jeder Minute gut, und manchmal sogar in der Summe sehr leidvoll. Wir Menschen sind also nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, dass jedes Tier auf dieser Welt ein „tolles Leben“ hat. Allerdings sind wir sehr wohl dazu verpflichtet, ihnen die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, nicht zu vereiteln, sie darin nicht zu beschränken oder behindern.

Genau dies tun wir allerdings in der Nutztierhaltung, und zwar in etlichen Punkten. Darum kann es keine artgerechte oder friedliche Nutztierhaltung geben, denn sämtliche Nutztiere erleiden

* Schmerzen u Krankheit bereits durch Zuchtfolgen

* führen ein verarmtes Leben,

* insbesondere auch im Bereich des Sozialen, z.B. bei der Entnahme des Nachwuchses

* sterben einen gewaltsamen Tod

Wir kommen schließlich zum dritten und letzten Begriff, den ich vorschlagen möchte: auf die Tierrechte. Denn was machen wir üblicherweise, wenn wir anerkennen, dass wir verletzliche Individuen mit subjektivem Innenleben und eigenem Wohlergehen vor uns haben? Wir schützen ihre verletzlichen Punkte und das, was für sie zum Vollzug ihres Lebens essentiell ist, durch Rechte.

Ich meine nicht das Tierschutzgesetz, das ja das Wohl der Tiere immer wieder den ökonomischen Interessen unterordnet und in „Ausnahme“klauseln immer wieder das erlaubt, was brutal, aber eben Usus ist. Ich meine stattdessen Individualrechte für Tiere.

Tierrechte sind die Rechte individueller Tiere z.B. auf

* Unversehrtheit und (Über)Leben

* Freiheit (nicht der Willkür unterworfen sein)

* vollständiges Leben mit all seinen Komponenten bzw. den Versuch, ein solches Leben zu vollziehen